Die am 09.12.2021 veröffentlichte Ergänzung zur Strategie der Kultusministerkonferenz ‚Bildung in der digitalen Welt’ gleicht einem Paukenschlag für die Prüfungskultur an deutschen Schulen, da sie deren traditionelle Praxis der Leistungserhebung selbst auf den Prüfstand stellt – und sie angesichts einer “sich verändernden Lern- und Arbeitskultur”, einer “sich weiterentwickelnden Aufgabenkultur” und aufgrund “gesellschaftlicher, pädagogisch-didaktischer und fachlicher Veränderungen” (KMK 2021, S. 13) als ‘ungenügend’ erachtet. Grund genug also, diesen Blog mit einer Auseinandersetzung mit den Empfehlungen der KMK sowie deren Hintergründen zu eröffnen. Denn die Forderungen und Maßnahmen, die die KMK ableitet, haben das Potenzial, den digitalen Wandel des deutschen Bildungssystems konstruktiv hin zu einer zeitgemäßen Prüfungskultur zu beeinflussen. Diese Transformationsbemühungen betreffen gleichermaßen den Wissensbegriff (1), die zu überprüfenden Kompetenzen (2), das Leistungsverständnis (3), die Form und den Zeitpunkt des Feedbacks (4) sowie letztlich die Haltung (5), mit der Lernenden begegnet wird (vgl. für die folgenden Abschnitte auch Albrecht 2021).
1. Wissen
Welche Wissensbestände in der Schule reproduziert, welche reformiert, welche als dysfunktional verworfen oder welche gänzlich neu in das schulische Bildungsverständnis aufgenommen werden, wird stetig verhandelt – so auch im Papier der KMK. Sie stellt fest, dass die Wissensbestände einzelner Disziplinen einer “rasante[n] Veränderung” unterliegen und die ubiquitäre Verfügbarkeit von Wissen als “grundlegendes Merkmal unserer Gegenwart” (KMK 2021, S. 13) verstanden werden kann, weshalb das ‘Abprüfen’ deklarativen bzw. lexikalischen Wissens unter den Bedingungen der Digitalisierung hinterfragt werden muss. In der Schule der Buchkultur konnte noch von der Prämisse ausgegangen werden, dass ein gemeinsamer Wissensbestand das Fundament kultureller Kommunikation sei (vgl. Giesecke 2005, S. 17) und dass das vermittelte Wissen sowie die damit verbundenen Kompetenzen auch in Zukunft mit einiger Sicherheit von Relevanz sein würden. Bildungskanons, Standardisierung und (Lehr-)Bücher als “Programme, die sagen, wie Menschen und Kulturen wahrnehmen, denken und handeln sollen” (ebd., S. 18), waren die logische Konsequenz. Im Unterricht des typographischen Zeitalters war es somit durchaus zu rechtfertigen, sich an der Vermittlung von inhaltlichem Wissen mit dem Ziel der Wissensakkumulation zu orientieren und den entsprechenden Lernerfolg in geschlossenen, auf Reproduktion abzielenden Aufgabenformaten abzufragen. Von den Lernenden verlangt diese Praxis jedoch vor allem mechanisches Auswendiglernen, das weder dazu beiträgt, Wissen nachhaltig und sinnstiftend zu verinnerlichen noch es zu kontextualisieren und mit individuellen Wissensbeständen zu verknüpfen.
Die Praxis, in Prüfungen reine Reproduktionsaufgaben zu stellen, gerät in der Kultur der Digitalität in Konflikt mit den gesellschaftlichen und technischen Entwicklungen: Zum einen ist es aufgrund des exponentiellen Wachstums von Daten und Informationen selbst Expert*innen unmöglich, über das gesamte Wissen ihrer Domäne zu verfügen, zum anderen können (lexikalische) Informationen im Internet überall und zu jeder Zeit recherchiert werden, was zu einem „Verlust des schulischen Informationsmonopols“ (Döbeli Honegger 2016, S. 45) geführt hat. Ungeachtet der Tatsache, dass Faktenwissen nach wie vor ein zentraler Bestandteil jeder Kompetenz bleibt und Lernende schon allein aus Effizienzgründen über bestimmte Grundwissensbestände (die allerdings ebenfalls einem Wandel unterliegen) verfügen müssen, sorgt dies für eine Kompetenzverschiebung: An die Stelle der Wissensakkumulation treten die strategische und kritische Suche nach Informationen, zielführende Bewertungs- und Filterstrategien und die Fähigkeit, vertrauenswürdige von unseriösen Quellen unterscheiden, deren Intentionalität, Wirk- und Verbreitungsmechanismen sowie die damit einhergehenden Bedeutung der Algorithmizität reflektieren (vgl. Frederking & Krommer 2019, S. 9f.) und letztlich für den eigenen Wissensbildungsprozess fruchtbar machen zu können.
Dass damit einschlägige digitale Kompetenzen einhergehen, die anstelle einer isolierten Reproduktion von Faktenwissen in Prüfungen zur Anwendung kommen sollen, spiegelt sich auch in dem Ergänzungspapier der KMK wider, in dem explizit auf den „Einsatz digitaler Medien und Werkzeuge in Prüfungen“ sowie auf die „Ermöglichung des Zugangs zu erlaubten und der Verhinderung des Zugangs zu unerlaubten (digitalen) Hilfsmitteln und Materialien“ (KMK 2021, S. 13f.) hingewiesen wird. Formate, „bei denen praktisch alle Hilfsmittel zugelassen werden, die zur Bearbeitung von Prüfungsaufgaben dienlich sein können“ und bei denen die “Fähigkeit der aufgabenbezogenen Materialauswertung und -nutzung” (KMK 2021, S. 14) im Mittelpunkt steht, können beispielsweise als Open Media-Prüfungen oder Take Home-Exams realisiert werden (vgl. Albrecht 2021, S. 134f.).
2. Kompetenzen
Eine der großen Herausforderungen der Schule des 21. Jahrhunderts besteht darin, dass sie Schüler*innen auf eine Zukunft vorbereiten soll, über die zuverlässige Prognosen
schon allein deswegen ein Ding der Unmöglichkeit [sind], weil sich in der Sphäre des Digitalen die technischen Innovationen in wahrlich wahnwitzigem Tempo ablösen: Der neueste Schrei von heute hat morgen schon Museumswert. Im Computerzeitalter gilt: Der Fortschritt macht Fortschritte, die Beschleunigung beschleunigt sich – und zwar dergestalt, dass wir augenblicklich nicht einmal mit Bestimmtheit sagen können, wie unsere technische Umwelt in nur ein bis zwei Jahrzehnten aussehen wird. (Nowzad 2011, S. 200)
Diese digitale Revolution bringt größere ökonomische, soziale, kulturelle, politisch und schließlich auch bildungstheoretisch wirksame Implikationen mit sich als alle anderen bisherigen technischen Revolutionen, sodass auch hier neu diskutiert werden muss, welche Kompetenzen Schüler*innen im 21. Jahrhundert erwerben sollen. Neben den bereits genannten wird der Fähigkeit, auf Herausforderungen vorbereitet zu sein, von denen wir derzeit noch nichts wissen bzw. die sich nur in Ansätzen abzeichnen und deren Auswirkungen schwer abzuschätzen sind, zentrale Bedeutung beigemessen, weshalb von Schule und Unterricht immer nachdrücklicher eine Fokussierung konzeptioneller, prozeduraler, epistemischer und metakognitiver Kompetenzen (vgl. Brandhofer et al. 2018, S. 329; Schleicher 2019, S. 35f.) sowie eine “Konzentration auf das Nichtautomatisierbare” (Döbeli Honegger 2016, S. 47 ff.) gefordert wird, wie sie sich z.B. in den sog. 21st Century Skills ‚Kreativität und Innovation‘, ‚Kritisches Denken und Problemlösen‘ sowie ‚Kommunikation und Kollaboration‘ widerspiegelt (vgl. Battelle for Kids 2019; Fadel, Bialik & Trilling 2015, S. 69ff.). Es gehört zu den größeren Überraschungen der KMK-Ergänzung, dass diese 4K des Lernens im Rahmen der Transformation der Prüfungskultur in den Vordergrund gerückt werden und Prüfungsformaten den Weg bereiten, in denen kollaborative Zusammenarbeit und Kommunikation nicht länger als Betrug gelten und metakognitiven Kompetenzen und Reflexionsleistungen an Gewicht gewinnen (vgl. KMK 2021, S. 14).
Über die fachübergreifenden Kompetenzen hinaus muss die Bedeutung der Digitalisierung bzw. der Digitalität auch für domänenspezifische Fähigkeiten und Fertigkeiten reflektiert werden:
Zum einen ist es das Ziel, fachliche Kompetenzen digital zu verwirklichen und fachliche Kompetenzen […] unter Nutzung digitaler Medien aufzubauen und zu stärken […]. Zum anderen geht es darum, digitale Kompetenzen als Teil medialer Kompetenzen fachlich zu fördern und fachspezifische Ausprägungen digitaler Kompetenzen zu entwickeln und zu vertiefen […]. (Frederking, Krommer & Maiwald 2018, S. 116).
Dies bedeutet in der Konsequenz, dass Lernende auch in Prüfungssituationen die Möglichkeit bekommen müssen, fachliche Kompetenzen digital und digitale Kompetenzen fachspezifisch unter Beweis zu stellen, weshalb digitale Medien sowohl rezeptiv als auch produktiv in Form multimodaler Produkte und Lernergebnisse selbstverständlicher Teil des Assessments werden müssen.
3. Leistung
In der klassischen Lern- und Prüfungskultur spielt der Leistungsbegriff eine zentrale Rolle, obwohl bei genauerem Hinsehen Uneinigkeit herrscht, was genau unter dem Begriff zu verstehen ist (vgl. Nerowski 2018, S. 230f.). Einigkeit besteht scheinbar in der Auffassung, dass sich Leistung in irgendeiner Form auf eine zielgerichtete Aktivität, Tätigkeit oder ein bestimmtes Verhalten einer Person bezieht, mit einem konstitutiven Moment der Bewertung verbunden (vgl. Nerowski 2018, S. 239) und “Ausdruck einer individuellen Urheberschaft” (Ricken 2018, S. 47) ist. Dieses Verständnis von Leistung ist jedoch ein relativ junges Phänomen: Während die bürgerliche Gesellschaft des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert noch dem Ideal des ‘ganzen Menschen’ folgte, “der tugendhaft und strebsam seine Anlagen vervollkommnen sollte, wozu regelmäßige Arbeit, aber auch intensive Lektüre sowie das beständige Gespräch mit Freunden und der innige Umgang mit Familie und Kindern gehörten” (Verheyen 2012, S. 385) und das Verb ‘leisten’ eher mit zwischenmenschlichen Beziehungen (z. B. Sicherheit, Widerstand, Gehorsam, Dienst oder Gesellschaft leisten; vgl. Verheyen 2018b) assoziiert wurde, verschob sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit der Entstehung der Massengesellschaft und “analog zu maschineller Arbeitskraft” (Verheyen 2012, S. 385) die Bedeutung von Leistung hin zu einem naturwissenschaftlich-physikalischen Begriffsverständnis und verdrängte die soziale Konnotation des Begriffs. Gleichzeitig entwickelten sich die ersten standardisierten Leistungstests:
Nicht nur Ökonomie und Physik, auch die noch jungen Disziplinen der Psychologie, Physiopsychologie und die schon erwähnte Arbeitswissenschaft wagten sich an die Vermessung körperlicher, kognitiver und psychischer Kompetenzen. Sie entwarfen eine Reihe von Testverfahren für den Arbeitsplatz, ihr Wissen strahlte aber auch in die Pädagogik aus und trieb die Professionalisierung und Standardisierung von Prüfungen im Bildungswesen voran – der damals entwickelte Intelligenztest ist in modifizierter Form trotz aller Kritik noch heute in Gebrauch. (ebd., S. 387).
Der Glaube an objektiv und individuell zu bestimmende Leistungskriterien wirkt bis heute unvermindert fort: Zwar richten sich schulische Vermittlungsprozesse und Instruktionsformen mit lehrer*innengelenkten Aufgaben und unter Annahme einheitlicher Bearbeitungswege kollektiv an eine Schulklasse, geprüft wird jedoch in der Regel die isolierte Person. Im schulischen Kontext hat dies zu einer Standardisierung der Prüfungsformate und der Frage- und Aufgabenstellungen sowie zu dem (Irr-)Glauben geführt, dass Leistung individuell zugeschrieben werden könne und sie sich objektiv, valide und reliabel sowie gerecht und lernförderlich auf einer sechsstufigen Notenskala darstellen ließe (was weder den lernpsychologischen noch den empirischen Tatsachen entspricht; vgl. Nölte/Wampfler 2021).
Heute aber, in der Epoche des digitalen Paradigmas, ist Vernetzung die “dominante Vergesellschaftungsform” (Rosa 2019, S. 115) und Gemeinschaftlichkeit – zusammen mit Referentialität und Algorithmizität – die zentrale kulturelle Form der Digitalität (vgl. Stalder 2017, S. 95). Lernen vollzieht sich nicht länger vorrangig als “einseitiger Wissens- oder Fertigkeitstransfer, sondern […] als offener Austausch zwischen Personen mit unterschiedlichen Wissens- und Erfahrungsniveaus […], häufig außerhalb formaler Lernumgebungen” (Stalder 2017, S. 135). Hierbei spielt Kommunikation eine wesentliche Rolle, da weniger das Individuum als vielmehr die Gemeinschaft in einem sozialen, interaktiven Prozess Wissen als “gemeinsam geteilte Bedeutung” (Blömeke et al. 2006, S. 337) entwickelt. Diese sozial-konstruktivistische Auffassung mündet in einer “Priorität des Sozialen vor dem Individuellen” (Reusser 2006, S. 155) und die solitäre Stellung und Bedeutung von einzelnen Expert*innen weicht im Internet einem kollektiven Netzwerk: Die daran Beteiligten
wissen mehr, sie finden schneller Antworten, ihre Neugierde wird weiter befeuert, sie lernen neue Aspekte ihres Themas kennen und beteiligen sich an mehr Gesprächen über diese Aspekte. Die Mehrwegkommunikation des Internets macht kluge Experten klüger denn je, obwohl wir inzwischen wissen, dass wir uns im Internet mitunter auch mit größerer Selbstzufriedenheit auf den Holzweg begeben können. Trotzdem ist dies ein spürbarer Unterschied. Wer früher meinte, der Klügste im Raum sein zu müssen, stellt heute fest, dass sich die Regeln geändert haben. Wenn ein Expertennetzwerk richtig funktioniert, dann ist der Klügste im Raum der Raum selbst. (Weinberger 2013, S. 85)
Diese Entwicklung führt dazu, dass das Subjekt von Lehr- und Lernprozessen nicht länger ausschließlich das Individuum ist, sondern ebenso das interpersonale soziale System (vgl. Giesecke 2005, S. 24). Gleichzeitig trägt es der Tatsache Rechnung, dass Leistung eben kein individuelles Konstrukt ist, das einer einzelnen Person zugeschrieben werden kann, sondern immer ein Ergebnis von Vielen ist und sozialen Parametern unterliegt, die sich nicht auf das Individuum zurückführen lassen (vgl. Verheyen 2018a, S. 199ff.).
Das alles schließt Prozesse des individualisierten und personalisierten Lernens keineswegs aus, aber es erweitert, legitimiert und unterstreicht eine Prüfungskultur, in der Probleme und Aufgaben nicht mehr nur alleine, sondern kollaborativ und kommunikativ im Austausch mit anderen Noviz*innen, aber auch Expert*innen sowie unter Zuhilfenahme analoger und digitaler Hilfsmittel bearbeitet werden.
Wenn Wissen und Kompetenzen also zunehmend in vernetzten Gemeinschaften – und unter Einbezug verschiedener Medien – erworben und unter Beweis gestellt werden, können isolierte Einzelprüfungen ohne Zugriff auf das Internet “die Lernwirklichkeit der Kultur der Digitalität nicht mehr angemessen repräsentieren” (Krommer 2019, S. 95). Es bedarf deshalb – so schließlich die Forderung der KMK – der “Entwicklung von Prüfungsformaten, die unter anderem die Kompetenzen bei der Fähigkeit zur kollaborativen Zusammenarbeit überprüfen” (KMK 2021, S. 13); in Form von Open Media-Klausuren mit Einzel- und Gruppenarbeitsphasen (vgl. Haverkamp 2021, Ingerfeld 2021, Zumbansen 2021), Portfolios (Dreier 2021) oder Projektarbeiten (vgl. Langela-Bickenbach & Albrecht 2021; Reuter 2021; Göbels 2021) liegen solche Formate sogar schon vor.
4. Feedback
In der traditionellen Prüfungskultur erhalten Schüler*innen Rückmeldungen auf ihre Leistungen in der Regel in Form einer Bewertung einer schriftlichen Leistungsaufgabe. Diese Form des Feedbacks steht normalerweise am Ende einer Unterrichtseinheit und ist vorrangig darauf ausgerichtet, Kompetenz- und Wissensrückstände zu diagnostizieren. Wesentlicher Bestandteil ist die vergebene Note, die in ihrer Verdichtung auf eine Ziffer und in ihrer inhaltlichen Entleerung jedoch kaum Rückschlüsse auf individuelle Lernfortschritte und -defizite zulässt. Wortgutachten und Kommentare werden nach dem ersten Blick auf die Note von den Lernenden häufig nur flüchtig oder gar nicht mehr wahrgenommen und schließlich mitsamt dem Leistungsnachweis und schlimmstenfalls ohne nachhaltigen Erkenntnisgewinn an die Lehrperson zurückgegeben. Geforderte Überarbeitungen und Verbesserungen finden erfahrungsgemäß ohne besonderen Enthusiasmus statt, da sie an der Note selbst nichts mehr ändern. Zudem können thematisch oder an einen Lernbereich gebundene Rückmeldungen kaum mehr unmittelbar im selben Lernkontext Anwendung finden; um aber lernförderlich wirken zu können, müsste das Feedback metakognitiv reflektiert werden, was jedoch ohne explizite Anregung durch die Lehrperson zum Erwerb der entsprechenden Strategien von den Schüler*innen kaum selbstständig erfolgt.
Zeitgemäße Prüfungsformate nehmen dagegen bestenfalls nicht nur das Ergebnis, sondern auch den Prozess von Lernleistungen in den Blick. Sie tragen der Individualität des Lernprozesses Rechnung, indem sie eben nicht nur summativ den Kompetenzzuwachs und die erbrachten Leistung der Schüler*innen zu einem festgelegten Zeitpunkt überprüfen und dokumentieren (assessments of learning), sondern auch formativ den Lernprozess begleitend unterstützen (assessments for learning und assessments as learning; vgl. Winter 2016, S. 31). Sie geben “Hinweise über und für das Lernen” (ebd.), die unmittelbar für den weiteren Lernprozess fruchtbar gemacht werden können, und helfen bei der Ausbildung lernförderlicher Reflexions- und Beurteilungskompetenzen. Sowohl Lernfortschritte als auch Lerndefizite werden so transparent, wodurch es der Lehrperson möglich wird, Schüler*innen gezielt und individuell zu unterstützen und die Lernenden ggf. auf der Grundlage eines gemeinsam erarbeiteten Kriterienkatalogs in ihrer Selbsteinschätzungs- und Handlungskompetenz zu fördern.
Mit Nölte (2017) lassen sich drei Dimensionen der formativen Rückmeldung unterscheiden: Das ‚Feed-Up‘ bezieht sich auf das Lernziel, das für die Lernenden von Beginn an transparent und in seiner Ausrichtung lebensweltrelevant eingebunden sowie sinnstiftend und persönlich herausfordernd sein muss. Das ‚Feed-Back‘ verdeutlicht den Schüler*innen rückwärtsgewandt, aber ermutigend und lerndienlich, wie sie im Verhältnis zum angestrebten Ergebnis stehen. Das ‚Feed-Forward‘ schließlich ist vorwärtsgewandt auf die individuelle Förderung der Lernenden und die Überwindung persönlicher Defizite und Desiderate ausgerichtet. Da sich die Lernwege und die Lernfortschritte innerhalb einer Lerngruppe aufgrund der Individualität der Schüler*innen, aber auch aufgrund unterschiedlicher Ziele und Gegenstände, an denen gearbeitet wird, unterscheiden, erfolgen die Rückmeldungen nicht automatisch für alle zum gleichen Zeitpunkt, sondern personalisiert auf den jeweiligen Lernstand bezogen. Formative Beurteilungen sind nicht nur in digitalen Prüfungsszenarien möglich und sinnvoll, hier aber besonders komfortabel zu etablieren, da sich Überarbeitungsschritte mit digitalen Medien besonders leicht dokumentieren und nachvollziehen sowie Rückmeldungen medial vielfältig (z.B. schriftlich als Anmerkung in einem kollaborativen Dokument, als Audiokommentar, als Videofeedback etc.) vornehmen lassen.
Die damit einhergehenden “größere[n] zeitliche[n] Spielräume [in der Bearbeitungsdauer der geforderten Produkte] auch über mehrere Tage oder auch Wochen” (KMK 2021, S. 14) führen zu einer Überwindung der im traditionellen Prüfungsdenken oft geforderten strikten Trennung von Lern- und Prüfungsphasen und ermöglichen eine Lern- und Prüfungskultur, die von vielen unterschiedlichen, lernbegleitenden Leistungsarten geprägt ist. Hierunter fallen Prozess- und Reflexionsleistungen, Zwischen- und Abschlusspräsentationen, (Peer-)Feedbackgespräche, etwa über einzelne Bearbeitungsschritte eigener Produkte, über individuelle Lösungswege und deren Organisation. “Ergänzende mündliche Prüfungen – auch Zwischenprüfungen – über den Lern- und Arbeitsprozess selbst, die über die Fokussierung auf das Produkt hinausgehen, sind hier ebenso denkbar wie begleitende Erarbeitungsportfolios, die in festgelegter Gewichtung einbezogen werden.” (KMK 2021, S. 14).
Diese Formen des formativen Assessments sollen schließlich “direkt oder mittelbar (z.B. über ein Portfolio) auch im Rahmen der summativen Leistungsbeurteilung Anerkennung finden” (Winter 2016, S. 29).
5. Haltung
Der Aufwand, der betrieben werden muss, um in der Kultur der Digitalität an den traditionellen Vorschriften und Restriktionen der Leistungserhebungen der Buchkultur festhalten zu können und die Bedingungen der Digitalisierung zu ignorieren, ist beträchtlich: Prüfungen, die auf ein kommunikatives und interaktives Informationsmedium wie das Internet auf die Vermeidung von Kommunikation, Interaktion und Information angewiesen sind oder räumliche und zeitliche Beschränkungen überwinden, müssen grundlegende Merkmale der Epoche der Netzkultur für die Dauer der Überprüfung mühevoll ausklammern. Denn die Bandbreite möglicher Betrugsversuche wäre groß: Antworten auf Klausurfragen können im Netz nachgeschlagen werden, die Schüler*innen können voneinander abschreiben und Lösungen austauschen, Prüfungen können von Eltern oder Bekannten anstelle der zu Prüfenden bearbeitet werden, etc. Mit dem Ziel der Verhinderung solcher Betrugsversuche werden gerade bei Online-Prüfungen panoptisch anmutende Proctoring-Maßnahmen diskutiert: Das Verhalten der Prüfenden könne während der Prüfung in Bild und Ton aufgezeichnet, die Nutzung von Browser und mobilen Devices kontrolliert bzw. gleich ganz unterbunden und Tastaturanschläge protokolliert werden (Foster & Layman 2013; kritisch Chin 2020; Funke, Ortelt & Eugster 2020). Die Überwachung von Prüfungssituationen und die Vereitelung von Betrugsversuchen sind natürlich keine Maßnahmen, die erst mit dem Internet aufgekommen sind; da das Netz jedoch Affordanzen zu Kommunikation und Kollaboration sowie zur Informationsrecherche in besonderem Maße aufweist, wirken sie hier besonders widersprüchlich.
Zeitgemäße Prüfungen bedürfen also nicht nur einer digitalen, sondern auch einer besonderen moralisch-pädagogischen Transformation: Statt Schüler*innen in Prüfungssituationen mit Misstrauen, Kontrolle und Überwachung zu begegnen, sollten Leistungserhebungen von einer Kultur des Vertrauens, der (Selbst-)Verantwortung und der Aufrichtigkeit geprägt sein. Eine defizitorientierte, vorverurteilende Erwartungshaltung, die a priori von der Unehrlichkeit der Lernenden ausgeht, weicht einem Vertrauen auf die Redlichkeit der Schüler*innen, die so entsprechende moralische Wertvorstellungen und Selbstbilder internalisieren können. Lernende müssen erfahren, (Mit-)Verantwortung für ihren eigenen Lernprozess und dessen Organisation zu tragen und die Möglichkeiten zur Mit- und Selbstbestimmung in Anspruch zu nehmen.
Wie sich eine solche Kultur in der Schule entwickeln kann, demonstriert Mecklenburg (2020) in einem Brief an die Prüfungskandidat*innen, der von einem positiv-zugewandten und persönlichen Lehrer*innen-Schüler*innen-Verhältnis und von einer Kultur der Offenheit, Ehrlichkeit und Selbstreflexion geprägt ist, der von Zuversicht in die Möglichkeiten sowie von Achtung der Grenzen der Lernenden zeugt und der die zwischenmenschliche Ebene von der Ebene der Bewertung trennt.
Auch wenn bzw. gerade weil dieser Paradigmenwechsel herausfordernd ist – “denn alle Beteiligten sind im Rahmen eines Schulsystems sozialisiert worden, das Prüfungen ganz selbstverständlich an Präsenz und Kontrolle knüpft” (Dreier et al. 2020) –, sollte er durch geeignete Prüfungsformate unterstützt werden.
Es kann vermutet werden, dass vor allem fremdbestimmte und auf extrinsischer Motivation beruhende Prüfungsformate, die auf die Überprüfung von Wissen und Verständnis abzielen, Betrugsversuche begünstigen. Erfahren die Lernenden dagegen bereits im Unterricht ein hohes Maß an Selbsttätigkeit, lebensweltnaher Situiertheit und Kontextuiertheit, Vernetzung, sozialer Einbettung und vielfältigen Anschlussmöglichkeiten (Schmidinger 2012, S. 103f.), erhöht dies die Wahrscheinlichkeit der Betrugsverhinderung auf persönlicher und inhaltlicher Ebene: Die Schüler*innen entwickeln ausgehend von eigenen Fragestellungen im besten Falle einen subjektiv bedeutsamen Bezug zum Lerngegenstand und sind intrinsisch motiviert, ihren erworbenen Lernzuwachs und Kompetenzgewinn zu demonstrieren und zu diskutieren. Sie begegnen ihrem Lernprozess mit Eigenverantwortung und stellen diese auch in Prüfungssituationen unter Beweis.
6. Fazit
Dass die Prüfungskultur einen so zentralen Stellenwert in der Ergänzung der KMK einnimmt, liegt nicht zuletzt daran, dass erkannt worden ist, dass die digitale Transformation von Schule nicht gelingen kann, wenn die Prüfungsformate davon unberührt bleiben. Denn im Sinne des “Constructive Alignment” (Biggs & Tang 2011) kann der digitale Wandel nur dann erfolgreich gestaltet werden, wenn sich in Prüfungen die didaktischen Ansätze und das Verständnis von Lehren und Lernen unter den Bedingungen der Kultur der Digitalität widerspiegeln und ihrerseits wieder auf den Unterricht rückwirken können. Die Ergänzung der KMK ist dabei nur ein erster, aber umso wichtigerer Schritt in diese Richtung.
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