Prüfungen sollen der Förderung von Lernprozessen dienen. Meist ist es umgekehrt, dass Lernprozesse nur der Vorbereitung von Prüfungen dienen.
Eine zeitgemäße Prüfungskultur eröffnet sowohl für Lernende als auch für Lehrende auf der pädagogisch-didaktischen, der individuell-persönlichen und der organisatorisch-institutionellen Ebene erhebliche Chancen und Potenziale. Diese werden im Folgenden skizziert.
Was dafür spricht
Prozessorientierung
Anders als Klausuren als „Speed-Tests“ am Ende eines Themas bilden zeitgemäße Prüfungsformate auch Anstrengung und Fähigkeiten ab, die im Prozess des Arbeitens gefordert sind. Darüber hinaus ermöglicht nach vorn gerichtetes Feedback (Feedforward) eine kontinuierliche Verbesserung des Lernprozesses.
Selbstbewertung
Indem Schüler*innen ihre Arbeitsprozesse dokumentieren und reflektieren, verfolgen sie eigene Lernprozesse mit und werden sicherer in der Einschätzung ihrer eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten. Dies trägt zu ihrer Selbstregulationskompetenz bei.
Transparenz und Akzeptanz
Indem Schüler*innen die Bewertungskriterien für ihre Arbeiten vorher gemeinsam mit der Lehrkraft festlegen, wird die Transparenz und Akzeptanz erhöht. Ohnmachtsgefühle und das Gefühl des Ausgeliefertseins gegenüber einer nicht nachvollziehbaren Bewertung nehmen damit ab.
Verlässlichkeit
Externe Faktoren wie „Glück“ oder „blöde Aufgabenstellungen“, die in der Wahrnehmung der Schüler*innen bei herkömmlichen Prüfungsformaten eine große Rolle spielen, werden durch zeitgemäße Prüfungsformate deutlich reduziert. Gleichermaßen steigen Bedeutung und Wahrnehmung intrinsischer Faktoren (Können, Wissen, Motivation, positive Emotionen) für die Bewältigung der Anforderungssituationen.
Versachlichung
Das Denken und Sprechen über Leistungen wird erfahrungsgemäß sachlicher und weniger emotional gefärbt, wenn Schüler*innen die Möglichkeit haben, den Prüfungsweg, das Prüfungsziel und die Bewertungskriterien aktiv mitzugestalten. Der Blick ist dabei eher auf die eigene Leistung als die Zuschreibung durch Lehrer*innen gerichtet.
Eigenaktivität
Durch die individuelle Schwerpunktsetzung bei zeitgemäßen Formen der Leistungsüberprüfung und die Möglichkeit, selbst zu bestimmen, was wann gemacht werden soll, ist mehr Eigenaktivität möglich bzw. nötig. In der Regel motiviert das bei längeren Arbeiten und kann Prüfungsängste und das Gefühl verringern, einer Prüfung ausgeliefert zu sein.
Selbstregulation
Im Rahmen zeitgemäßer Prüfungen stecken sich Schülerinnen selbstständig Ziele für ihre Lernprozesse. Sie gewinnen einen Überblick über lernförderliche Strategien, verbessern ihr Zeitmanagement und haben viele Möglichkeiten, Leistungen jenseits der Prüfungssituation Klausur zu erbringen, die Lehrerinnen (fairer) „abrechnen“ können als mit einem gleichgerichteten Prüfungsszenario. Dabei wird die Selbstregulation en passant gestärkt.
Nachhaltigkeit
Wer nicht mehr für Klausuren lernt, sondern weil er sich für seinen Lernprozess selbst Ziele gesetzt und Wege definiert hat, lernt nachhaltiger. Dem gegenwärtig dominierenden Bulimie-Lernen mit einer steilen Kurve des Vergessens individuell nicht bedeutsamer Inhalte wird so entgegengewirkt.
Organisation
Prüfungen, die nicht darauf angelegt sind, dass alle Lernenden im Gleichschritt unter Überwachung der Lehrenden dieselbe Aufgabe erledigen und bei denen der vorangegangene Lernprozess aktiv in die Prüfungsaufgaben einfließt, machen unabhängiger von eng getakteten Klausurplanungen und physischer Anwesenheit im Schulgebäude.
Zeitmanagement
Dadurch, dass formatives Feedback bei zeitgemäßen Prüfungsformen zunehmend summatives Feedback ersetzt und Schüler*innen möglicherweise auch den Zeitpunkt für die Überprüfung selbst definieren können, treten Situationen seltener auf, in denen Schüler*innen gehäuft Klausuren nachschreiben müssen.
Korrekturtätigkeit
Durch individuellere Lernwege und Lernprodukte nimmt die monotone Korrekturtätigkeit ab, die Lehrer*innen häufig als belastend empfinden. Verschiedene Lernprodukte öffnen die Augen für individuelle Stärken und Schwerpunktsetzungen und leiten weg vom defizitorientierten Blick, der Korrekturen häufig dominiert.
Individuelle Lerndiagnostik
Mit der Individualisierung von Lernprozessen geht eine veränderte Gestaltung von Unterricht einher, in dem auch individualisierte Rückmeldungen und Lernentwicklungsgespräche möglich sind. Die individualisierte Lerndiagnostik steht damit nicht mehr entkoppelt von Klausuren und anderen Formen der Leistungsüberprüfung, sondern wird Teil des Leistungsüberprüfungsprozesses.
Sinnhaftigkeit
Korrekturen sind zeitaufwändig und stehen oft in keinem Verhältnis zum “Ertrag”, weil Schüler*innen sie nicht als relevant für ihren weiteren Lernprozess betrachten. Erfahren Lernende aber sowohl für Lernprozesse als auch Lernprodukte regelmäßig individuelles Feedback, ändert sich in der Regel ihre Arbeitshaltung – damit steigt auch für die Lehrenden das Maß an Sinnhaftigkeit und Selbstwirksamkeitserfahrung.
Peer-Feedback
Zeitgemäße Prüfungsformate denken Peer-Feedback durch andere Mitglieder der Lerngruppe als konstitutives Element der Rückmeldung mit. Zum einen werden Schüler*innen durch diese Art des Feedbacks für die Leistungen ihrer Peers sensibilisiert und in ihrer Urteilskompetenz gestärkt, zum anderen entlastet Peer-Feedback die Lehrenden ein Stück weit in ihrem Arbeitsprozess.
Selbstbestimmung
Schüler*innen nehmen Klausuren, insbesondere dann, wenn sie nicht uneingeschränkt positiv ausfallen, häufig als Abstrafung wahr. Teilweise wissen sie trotz langer Rückmeldung nicht, was sie verändern sollen. Prüfungsformate, die Schüler*innen ermöglichen, den gesamten Lernprozess in die Bewertung einzubeziehen, ermöglichen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über das, was als Aufzeigen von Leistung möglich ist.