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Interview mit Prof. Dr. Julian Schmitz

Lieber Julian, vielen Dank, dass Du Dich bereit erklärt hast, mit uns über Prüfungs- und Leistungsangst zu sprechen. Kannst Du Dich kurz vorstellen? Wie bist Du zu dem Thema ‘Leistungs- und Prüfungsangst’ gekommen und aus welcher psychologischen und psychotherapeutischen Denkrichtung blickst Du darauf?

Ich bin Professor für Klinische Kinder- und Jugendpsychologie an der Universität Leipzig. In Leipzig leite ich neben dem Forschungsbereich auch die Hochschulambulanz für Kinder und Jugendliche, in der wir Diagnostik und Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Erkrankungen anbieten. Ich bin selbst Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut im Therapieverfahren Verhaltenstherapie. In unserer Forschungsgruppe und der Hochschulambulanz untersuchen wir insbesondere Angststörungen im Kindes- und Jugendalter. Soziale und Prüfungsängste spielen bei vielen psychischen Erkrankungen eine wichtige Rolle, darunter auch Depressionen, Essstörungen und Verhaltensstörungen. Soziale und Prüfungsängste sind bei Kindern und Jugendlichen ein sehr großes Thema. Viele unserer Patienten schildern Angst und Druck vor, während, aber auch nach Prüfungssituationen. Manche Kinder und Jugendliche sind so beeinträchtigt durch diese Ängste, dass jeder Schulbesuch zur Qual wird und teilweise ein Schulbesuch nicht mehr möglich ist. Das sind zwar Extremfälle, sie zeigen aber, wie relevant das Thema ist. Uns geht es in unserer Arbeit darum, besser zu verstehen, wie diese sozialen Prüfungsängste entstehen und aufrechterhalten werden. In unseren Psychotherapien helfen wir Kindern und Jugendlichen mit Prüfungsängsten auch dabei, ihre Ängste zu verringern, so dass ein normaler Alltag wieder möglich ist. 

Was sind Leistungsängste, wie äußern sie sich? Wie groß ist die Anzahl der Betroffenen?

Leistungsängste sind Teil von sogenannten sozialen Ängsten. Kinder und Jugendliche, die unter sozialen Ängsten leiden, haben häufig Sorge davor, sich vor anderen Kindern, Jugendlichen oder Erwachsenen zu blamieren oder sich peinlich zu verhalten. Viele fürchten sich davor, dass andere etwas Schlechtes von ihnen denken könnten. Diese sozialen Ängste können sich auf Leistungssituationen wie Prüfungen in der Schule beziehen, aber auch auf Interaktionen mit anderen z. B. zu einer neuen Gruppe dazu zu kommen oder auf einen Geburtstag eingeladen zu sein, wo man niemanden kennt. Wenn soziale Ängste Kinder und Jugendliche stark einschränken und zu anhaltendem Leiden führen, dann erfüllen sie die Merkmale einer psychischen Störung, die als Soziale Phobie bzw. Soziale Angststörung bezeichnet wird. Aber wir wissen aus der Forschung auch, dass viele Kinder und Jugendliche unter sozialen und Leistungsängsten leiden, die zwar nicht einer Psychotherapie bedürfen, aber in Prüfungssituationen zu großen Schwierigkeiten führen. Kinder, die unter Leistungsängsten leiden, fürchten insbesondere Prüfungssituationen. Diese kommen auf der einen Seite häufig im Schulalltag vor, aber auch bei bestimmten Freizeitaktivitäten wie Sportveranstaltungen oder auch im musikalischen Bereich. 

Gibt es Leistungsangst ohne Prüfungsangst und umgekehrt Prüfungsangst ohne Leistungsangst?

In der klinischen Psychologie unterscheiden wir nicht explizit zwischen Prüfungsangst und Leistungsangst. Aber es gibt durchaus Unterschiede darin, wovor sich Kinder und Jugendliche mit sozialen Ängsten genau fürchten. Manche haben eher Angst vor der Prüfungssituation an sich, z. B. dass sie einen Blackout haben könnten oder sich vor anderen blamieren, weil sie so aufgeregt sind. Leistungsangst bezieht sich darauf, dass Schüler:innen Sorge haben, eine ungenügende Leistung zu erbringen. Hier ist es aber auch sehr unterschiedlich, ob sich das darauf bezieht, dass diese vermeintlich schlechte Leistung unangenehm ist vor sich selbst oder vor anderen Personen wie Mitschüler:innen, Lehrkräften oder Eltern. 

Unter welchen Umständen führen traditionelle Prüfungsformate (z. B. Schulaufgaben/Klausuren/Tests) zu einer pathologischen Leistungs- und/oder Prüfungsangst?

Pathologische Leistungs- und Prüfungsangst als Teil von sozialen Ängsten entsteht nie aus nur einer Ursache wie negativen Erlebnissen von Prüfungssituationen. Wie alle psychischen Störungen entstehen diese aus einem komplexen Zusammenspiel von biologischen, sozialen und individuellen Faktoren. Es lässt sich jedoch empirisch bestätigen, dass Prüfungsängste durch negative Erfahrungen aufrechterhalten und verstärkt werden können. Häufig werden diese Prüfungssituationen von ängstlichen Schüler:innen als sehr aversiv und selbstwertschädigend erlebt. 

Welche Prüfungsformate werden als besonders belastend empfunden? Woran liegt das?

Besonders belastend sind für viele Kinder und Jugendliche solche Prüfungen, bei denen sie ein hohes Maß an Unkontrollierbarkeit und wenig Unterstützung erfahren. Zudem ist es für viele Kinder und Jugendliche sehr belastend, wenn sie zusätzlich befürchten müssen, dass eine schlechte Prüfungsleistung zu einer Bloßstellung führt. Das wäre z. B. eine unangekündigte Prüfung, die allein vor der gesamten Klasse erbracht werden muss. Kinder und Jugendliche erleben solche Prüfung als extrem belastend. Studien zeigen auch, dass solche Prüfungen ebenfalls bei psychisch gesunden Kindern ein extremes Maß an emotionalem, aber auch körperlichem Stress auslösen. Forschungsarbeiten aus unserer Arbeitsgruppe zeigen, dass Kinder mit Prüfungs- und Leistungsängsten vor und nach Prüfungen durch negative Gedanken an die Prüfung belastet sind.

Wie wirken sich Leistungs- und Prüfungsangst auf die individuellen Bildungschancen aus?Gibt es Erkenntnisse, welche Folgen diese Ängste für die Betroffenen haben (z. B. auf Noten, Abschlüsse)? 

Wenn Kinder und Jugendliche unter manifesten Prüfungsängsten leiden, dann führt dies im Durchschnitt zu höheren Quoten von Schulabbruch oder auch geringeren Bildungsabschlüssen. Nicht weil die Personen weniger leistungsfähig wären, sondern weil sie Prüfungen vermeiden, da sie diese als sehr aversiv erleben. Damit können Prüfungsängste einen sehr nachhaltigen negativen Effekt auf die Bildungsbiographien von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen haben. 

Sind Leistungsdruck und Prüfungsangst ein schichtspezifisches Phänomen? Lassen sich auch genderspezifische Unterschiede feststellen? 

Es gibt gewisse Geschlechtsunterschiede:  Forschungsergebnisse zeigen,  dass Mädchen häufiger von Prüfungsängsten berichten als Jungen. Es gibt keine Hinweise darauf, dass Prüfungsängste bei Kindern in unterschiedlichen Schichten häufiger oder seltener vorkommen. Wohl aber, dass Prüfungsängste dazu führen, dass später im Erwachsenenalter häufiger ein niedrigerer Bildungsabschluss erreicht wird. Damit sind Prüfungsängste eher die Ursache und nicht die Folge einer niedrigeren sozialen Schichtzugehörigkeit.

In einem Vortrag hast du Prüfungserfahrungen als Teil eines negativen Zirkels beschrieben, durch den soziale Ängste verstärkt werden. Kinder und Jugendliche sind in diesem Kreislauf gefangen: 

Mit dem Institut versuchen wir, die traditionelle Prüfungskultur zu hinterfragen und  Möglichkeiten aufzuzeigen, wie Prüfungen aussehen können, damit sie nicht Teil dieses negativen Teufelskreises sind. Ein Aspekt, den du beschreibst, ist Kontrollverlust. Siehst du einen Zusammenhang von Kontrolle als typischem Merkmal von traditionellen Prüfungen auf der einen Seite und negativen Erfahrungen des Kontrollverlusts auf der anderen Seite?

Klassische Prüfungsformate haben häufig einen engen zeitlichen Rahmen, in dem eine Leistung unter hohem Druck erbracht werden muss. Das bedeutet auch, dass Schüler:innen viel Kontrolle für eine gute Leistung brauchen. Kontrolle über ihr psychisches Befinden (z. B.  starke Ängste, die ihnen im Wege stehen), aber auch über andere psychische Qualitäten wie Konzentration und Gedächtnis. Wenn Schüler:innen psychisch belastet sind, fällt ihnen diese Kontrolle aber schwerer. Auf der anderen Seite besteht auch Angst vor einem Kontrollverlust, weil dies vermutlich zu einer schlechteren Leistung oder gar einem Versagen in der Prüfung führen würde. Alternative Prüfungsformate erlauben bei psychischen Belastungen meistens mehr Kontrollerleben, wenn sie gut vorbereitet und begleitet werden, da Kontrolle und Leistung nicht unter Zeitdruck stattfinden müssen.

Im Institut für zeitgemäße Prüfungskultur dienen uns die sog. ‘didaktischen Schieberegler’ als wichtiges Reflexionsinstrument, um Freiheitsgrade in Prüfungen zu reflektieren. Lassen sich bestimmte Variablen (siehe Schaubild) einer Prüfungspraxis bestimmen, die als besonders belastend oder entlastend empfunden werden?

Aus meiner Sicht geht es weniger um die Bewertung, welche Qualitäten einer Prüfung als grundsätzlich belastender erlebt werden, sondern um eine Anpassung der Prüfungsmerkmale an individuelle, aber auch an situative Gegebenheiten. Mit diesen Schiebereglern ist es idealerweise möglich, eine Prüfung zu konzipieren, die es Schülern in der jeweiligen Situation erlaubt, eine gute Leistung zu erzielen, die für sie selbst zudem eine positive Arbeitserfahrung ist. Mehr Freiheit bedeutet beispielsweise nicht immer, dass es Schüler:innen leichter fällt, eine Prüfung zu bestehen. Manche brauchen mehr Strukturierung und Vorgaben oder eine Mischung aus Strukturen und Freiheiten. Das ist von vielen Faktoren abhängig, darunter auch das psychische Wohlbefinden bzw. die psychische Gesundheit.

Zu viel Freiheit kann auch als Überforderung erlebt werden. Wie wird man den heterogenen “Freiheits-Bedürfnissen” der Schüler:innen aus psychologischer Sicht am besten gerecht?

Das sehe ich auch so, es gibt Kinder und Jugendliche, die Schwierigkeiten haben, sich selbst zu strukturieren oder auch zu motivieren. Zu große Freiheit kann in dem Fall eine Überforderung sein. Daher ist es aus meiner Sicht wichtig, die Aufgaben und die Anforderungen gut zu besprechen, mögliche Hindernisse in der Prüfungsbewältigung gemeinsam abzuschätzen, zu reflektieren,  die Schüler:innen zu begleiten und die Prüfung im Verlauf ggf. noch einmal anzupassen.

Wie trägt die Psychotherapie dazu bei, dass Leistungsdruck und Prüfungsangst abnehmen? Welche Lösungsansätze werden mit Klient:innen erprobt? 

Da sich psychische Störungen auf viele Aspekte auswirken, die für Prüfungen notwendig sind, wie Selbstvertrauen, Konzentration, Gedächtnisleistung aber auch soziale Kontakte, wirkt eine psychotherapeutische Behandlung meistens positiv auf das schulische Leistungspotential von Schüler:innen, allein dadurch, dass die Symptomatik sich bessert. Aber in der Behandlung werden auch gezielt Dinge erarbeitet, die bei Prüfungsängsten oder bei Problemen in der Prüfungsvorbereitung helfen. Dazu gehören beispielsweise Techniken zur Selbststrukturierung vor und in Prüfungen oder auch das Verändern von negativen Gedanken in Bezug  auf Prüfungssituationen.

In der Diskussion um eine zeitgemäße Prüfungskultur werden den sog. 4K – Kommunikation, Kollaboration, Kreativität und kritisches Denken – eine zentrale Rolle zugeschrieben, nicht zuletzt in den ergänzenden Empfehlungen der Kultusministerkonferenz zur Strategie “Bildung in der digitalen Welt” (S. 13). Wie bewertest Du diese Entwicklung aus psychologischer/psychotherapeutischer Perspektive?

Aus der Perspektive der psychischen Gesundheit sind die 4K ebenfalls zentrale Kompetenzen. Beispielsweise wissen wir, dass Kinder und Jugendliche um so widerstandsfähiger gegenüber psychischen Belastungen sind, je besser ihr soziales Netzwerk ist. Dafür ist die Zusammenarbeit also die Kollaboration wichtig. Aber auch kommunikative Fertigkeiten sind zentral für das Ausdrücken von eigenen Bedürfnissen und dem Aushandeln von sozialen Beziehungen mit Gleichaltrigen und Erwachsenen. Während die 4K also auch eine gute Grundlage für psychische Gesundheit und Wohlbefinden legen, werden sie im schulischen Kontext weitgehend hinsichtlich eines kognitiven Lernzuwachses verstanden. Die Zielgröße der psychischen Gesundheit und des Wohlbefindens fehlt hierbei. Was ich zudem problematisch sehe, dass es eine Diskrepanz zwischen den 4K im Unterricht und Prüfungsformaten gibt. Während Kollaboration und Kommunikation im Unterricht erwünscht sind, sind sie in Prüfungsformaten oft untersagt und gelten als Täuschungsversuch. Wir haben daher oft eine schlechte Passung zwischen vorbereitendem Unterricht und Prüfungen, was wiederum zu Stress und Überforderung in Prüfungssituationen führt. Das ist sehr ungünstig. 

Zuletzt: „Wohlfühlpädagogik“ ist im Bildungsdiskurs zu einer Art Schimpfwort geworden. In konservativen Kreisen wird darauf hingewiesen, dass Bildung nicht samtig und weich, sondern hart und anstrengend sein müsse und auf keinen Fall mit Spaß oder Wohlbefinden zu vereinbaren sei. Wie beurteilst  Du diesen Gedankengang vor dem Hintergrund Deiner klinischen Erfahrungen?

Es ist durchaus ein wichtiges Ziel, eine lernförderliche Arbeitshaltung und auch Durchhaltevermögen in anspruchsvollen Situationen zu vermitteln. Aber die Ansicht, dass dies über möglichst strenge und aversive Prüfungserfahrungen vermittelt werden sollte, ist nicht sinnvoll. Es geht vielmehr darum, Schüler:innen positive Lern- und Bewältigungserfahrungen zu ermöglichen. Eine Prüfung, auf deren Ergebnis ich stolz bin und deren Bewältigung mir Spaß gemacht hat, ist für die Lernmotivation viel zuträglicher als wenn man am Ende lediglich froh ist, dass eine schreckliche Aufgabe vorbei ist. Alternative Prüfungsformate berücksichtigen aus meiner Sicht die individuellen – darunter auch psychischen – Voraussetzungen von Kindern und Jugendlichen für schulisches Lernen. Nach meinem Verständnis vermitteln sie häufig sehr wichtige Kompetenzen wie Selbststrukturierung, Kollaboration und Kommunikation.