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Das Verhältnis von Lern- und Prüfungskultur neu bestimmen

Lars Mecklenburg

Das Verhältnis von Lern- und Prüfungskultur ist aus traditioneller Perspektive wenig problematisch. Zuerst wird etwas gelernt, anschließend wird das Gelernte geprüft. Das zeitliche Nacheinander sorgt für klare Verhältnisse: Die Lernhandlungen bereiten die Prüfungshandlungen vor und die Prüfungshandlungen schließen die Lernhandlungen ab.

Wenn man Lernen und Prüfen dergestalt auffasst, besteht zwischen ihnen eine einseitige Abhängigkeit. Prüfungshandlungen sind von vorausgehenden Lernhandlungen abhängig. Lernhandlungen hingegen scheinen von Prüfungshandlungen unabhängig zu sein, da sie ihnen zeitlich vorausgehen und Kausalität nur in eine Richtung verläuft.

Abb. 1: Traditionelle Sicht eines zeitlichen Nacheinanders von Lern- und Prüfunghandlungen

Dieser Blick auf das Verhältnis von Lern- und Prüfungskultur erscheint nur dann plausibel, wenn man dessen inhärente Komplexität auf ein zeitliches Nacheinander reduziert und zentrale Aspekte ausblendet. Im Folgenden soll schrittweise ein differenziertes Bild des Gegenstandsbereichs entwickelt werden, das deutlich werden lässt, wie unvermeidlich eine grundsätzliche Neubestimmung des Verhältnisses von Lern- und Prüfungskultur ist.

Lernen und Prüfen mit Aufgaben

Lern- und Prüfungskultur sind keine disjunkten Handlungsbereiche. Es ist daher keine triviale Frage, ob eine Handlung eher dem Lernen oder dem Prüfen zuzuordnen ist. Diese Frage nach einem Kriterium zur Unterscheidung von Lern- und Prüfungskultur wird gleich noch eine Rolle spielen. Zuerst soll es aber um eine zentrale Gemeinsamkeit beider Bereiche gehen.

In beiden Handlungsbereichen spielen Aufgaben eine elementare Rolle: Es gibt weder ein Lernen ohne Aufgaben noch Prüfungen ohne Aufgaben. Lernaufgaben erfüllen jedoch eine andere Funktion als Prüfungsaufgaben. Lernaufgaben dienen der Entwicklung von Kompetenzen. Prüfungsaufgaben dienen der Feststellung von Kompetenzen. Eine eigentümliche (und noch wichtig werdende) Zwischenrolle nehmen Diagnoseaufgaben ein, die zwar oftmals den Lernaufgaben zugeordnet werden, trotzdem aber sehr viele Eigenschaften mit Prüfungsaufgaben gemeinsam haben.

Abb. 2: Aufgaben als Überschneidungsbereich von Lern- und Prüfungskultur

Kompetenzen können auf sehr unterschiedliche Art und Weise entwickelt werden. Entsprechend vielgestaltig sind auch Lernaufgaben. Manche von ihnen wirken kaum mehr wie eine eigentliche Aufgabe. Lernende können sich beispielsweise selbst eine Herausforderung stellen und bestimmen dabei auch, wie sie ihren Lernweg bei der Bearbeitung dokumentieren. Das Verständnis von Lernaufgaben ist entsprechend weit zu fassen.

Allgemein lassen sich offene und geschlossene Aufgaben je nach Eindeutigkeit möglicher Lösungen unterscheiden. Lernaufgaben sind oftmals offener angelegt. Prüfungsaufgaben sind in der Regel geschlossener, weil der Entwicklungsstand ganz bestimmter Kompetenzen festgestellt werden soll und dies über die Aufgabenstellung gesteuert wird. Dennoch ermöglicht das Kriterium der Offenheit keine Unterscheidung von Lern- und Prüfungsaufgaben. Viele Aufgaben kommen in beiden Handlungsbereichen vor und es gibt eine erst einmal erfreuliche Tendenz, Prüfungsformate mehr wie Lernaufgaben anzulegen (was aber die eigentliche Problematik nicht löst, wie noch zu zeigen ist).

Insgesamt lassen sich also Lern- und Prüfungsaufgaben nicht über ihre jeweilige Anlage und Struktur unterscheiden. Stattdessen ergibt sich ihre Abgrenzung aus ihrer unterschiedlichen Funktion hinsichtlich der Entwicklung bzw. Feststellung von Kompetenzen. Und damit eng verbunden ist ein Aspekt, der direkt zum Kernproblem im Verhältnis von Lern- und Prüfungskultur führt, nämlich der unterschiedlichen Rolle, die Fehler jeweils in ihnen einnehmen.

Positive und negative Fehlerkultur

Aufgaben haben eine, mehrere oder auch keine Lösungen. Es gibt Lösungen, die zur Aufgabe passen, und Lösungen, die nicht passen. Das muss nicht immer eindeutig sein. Eine nur vermeintliche Lösung ist ein Fehler. Für das Lernen haben Fehler einen positiven Wert. Man lernt aus ihnen indirekt, wie etwas nicht zu verstehen, und integriert so schrittweise das Neue in den eigenen Verstehenshorizont. Gerade die nicht eindeutigen Lösungen helfen auf diesem Weg. Die Ränder des Verstehenshorizonts sind ein Graubereich und Fehler sind die helfenden Hinweise, um sich diesem anzunähern und ihn zu durchqueren. Wo Fehler gewagt und nicht vermieden werden, zeugen sie von einer selbstbewussten und vielversprechenden Lernhaltung.

Lernaufgaben sind dadurch charakterisiert, dass ihre Bearbeitung in positiver Fehlerkultur erfolgt, jedes Nicht-Wissen ein Noch-nicht-Wissen, jedes Nicht-Können ein Noch-nicht-Können ist. Bei Prüfungsaufgaben jedoch wechselt die Fehlerkultur ihr Vorzeichen. Fehlerhafte Bearbeitungen einer Prüfungsaufgabe führen zu schlechteren Bewertungen. Wenn Lernende selbstbewusst Fehler wagen, spielen sie zu ihren eigenen Ungunsten nach den falschen Regeln. Wer im Prüfungskontext nach den Regeln der Lernkultur spielt, erzeugt für sich erhebliche Nachteile. Beim Prüfen sind Fehler zu vermeiden, weil sie zur Feststellung fehlender Kompetenz führen.

Umgekehrt gilt genauso: Wer im Lernkontext nach den Regeln der Prüfungskultur spielt, sich vor Fehlern fürchtet oder gar als Lehrender die Lernenden vor Fehlern fürchten lässt, der erschwert und verhindert Lernen. Das eigentliche Ziel der Kompetenzentwicklung benötigt die eigene Auseinandersetzung mit dem Lerninhalt mit der Gewähr, dass ein Fehler nicht bewertet, sondern als fundamentaler Bestandteil des Lernwegs verstanden und anerkannt wird.

Abb. 3: Positive und negative Fehlerkultur als Kriterium für Lern- und Prüfungskultur

Die unterschiedlichen Spielregeln der Lern- und Prüfungskultur, die unterschiedliche Funktion von Lern- und Prüfungsaufgaben mit ihrer entweder positiven oder negativen Fehlerkultur ist das oben angedeutete Unterscheidungskriterium für die beiden Handlungsbereiche der Lern- und Prüfungskultur. Wer dies akzeptiert, beginnt einen dauerhaft unter der Oberfläche schwelenden Konflikt wahrzunehmen: Lernen und Prüfen stehen trotz gemeinsamer Aspekte und einer engen Verknüpfung in einem direkten Gegensatz zueinander, weil mit ihnen grundsätzlich verschiedene Fehlerkulturen verbunden sind.

Einen Konflikt zu akzeptieren, ist ein wichtiger Schritt zu seiner Lösung. Derzeit sind jedoch sowohl Lehrende als auch Lernende in diesem Konflikt eher gefangen. Beide haben sich mit ihm arrangiert, indem sie in ihrem Lern- und Prüfungshandeln jeweils Vermeidungsstrategien entwickelt haben. Ihnen gemeinsam ist der Versuch, Widersprüche im eigenen Handeln angesichts der Gegensätzlichkeit der beiden Fehlerkulturen vermeiden zu wollen. Erkauft wird dies damit, dass es zu einer fortlaufenden Vermischung von Lern- und Prüfungskultur kommt. Der Konflikt wird verschleiert, anstatt ihn zu lösen – mit erheblichen Nachteilen, die damit sowohl für Lehrende als auch Lernende verbunden sind.

Vermischung von Lern- und Prüfungskultur – durch Lehrende

Lehrende sind Anwälte des Lernens. Sie können aber nur bedingt auch Anwälte der Lernenden sein. Denn sie müssen fortlaufend die Szenerie wechseln, vor der sie als Lehrende spielen. Mit einem Fuß stehen sie im Handlungsbereich der Lernkultur und mit dem anderen im Handlungsbereich der Prüfungskultur. Dem pädagogischen Graben zwischen diesen beiden Bereichen entspricht ein pädagogischer Riss, der sich – bei dem einen bewusst, bei dem anderen unbemerkt – durch das Innere von Lehrenden zieht.

An einem Tag können Lehrende im Modus der positiven Fehlerkultur unterwegs sein. Sie fördern Lernende, indem sie Fehler als nützlich für den Lernprozess hervorheben. Fehler lassen sich dann mit Anerkennung vereinbaren und sind nicht mit einer Abwertung von Lernhandlungen verknüpft. Am nächsten Tag treten Lehrende aber im Modus der negativen Fehlerkultur auf und bewerten Lernende, indem sie die Fehler genau zusammenzählen und meist sogar noch durch eine Note einer vergleichenden Bewertung unterziehen. Lehrende können derzeit nicht Anwälte des Lernens sein, ohne zugleich als Pflichtverteidiger des Prüfens aufzutreten.

Um sich dieser Schattenseite der Prüfungskultur zu entziehen, haben Lehrende eine Als-Ob-Strategie entwickelt. Sie behandeln Prüfungsaufgaben so, als ob es Lernaufgaben wären. Am deutlichsten wird diese Fiktion in dem Versuch, durch ausführliche Feedbacks zu Prüfungsprodukten eine Lernwirksamkeit auch im Prüfungskontext anzustreben. Aber auch die strukturelle Annäherung von Prüfungsformaten an die offeneren Formen von Lernaufgaben kann als Versuch gelesen werden, den Prüfungskontext stärker in Richtung Lernkontext entwickeln zu wollen. Der Konflikt wird aber weder in der einen noch der anderen Weise gelöst, solange Prüfungsaufgaben mit negativer Fehlerkultur verknüpft bleiben.

Wenn eine Aufgabe die Funktion der Kompetenzfeststellung hat und zur Bewertung von Lernenden führt, wird sie von Lernenden als Prüfungsaufgabe behandelt. Sie stellen sich in der Bearbeitung auf die Prüfungsfunktion ein, versuchen Fehler zu vermeiden und mittels verschiedener Mittel einen kompetenten Eindruck zu hinterlassen. Wenn Lernende im Anschluss vor allem auf die Noten achten, so zeigen sie darin, dass sie die funktionale Differenzierung von Lern- und Prüfungskultur verstanden und zu akzeptieren gelernt haben.

Aus Sicht von Lehrenden ist die geringe Lernwirksamkeit von aufwändigen Korrekturen und Feedbacks zu Prüfungsprodukten ernüchternd. Auch die gut gemeinte Stellungnahme, dass es nicht auf die Note ankomme, sondern auf die fortschreitende Kompetenzentwicklung, verhallt im Kontext der Kompetenzfeststellung ungehört (dazu später noch mehr). Nicht selten hat die Enttäuschung darüber, dass die Bemühungen in Richtung Lernkultur nicht fruchten, bei Lehrenden die Folge, am Verhältnis von Lern- und Prüfungskultur nicht weiter rütteln zu wollen.

Abb. 4: Die (vergebliche) Als-ob-Strategie Lehrender, Prüfungshandlungen wie Lernhandlungen zu behandeln

Vermischung von Lern- und Prüfungskultur – durch Lernende

Während die gegensätzliche Fehlerkultur bei Lern- und Prüfungshandlungen für Lehrende vor allem einen Szenenwechsel bedeutet, der zwar als pädagogischer Riss belastend ist und sich auf Authentizität und Glaubwürdigkeit auswirkt, letztlich aber doch aufgrund der lehrseitig getrennten Rollenkontexte aushaltbar ist, stellt dieser Widerspruch für Lernende einen komplizierteren Konflikt dar. Sie müssen sich fortlaufend zwischen den beiden Konfliktparteien entscheiden: Lerne ich noch oder bereite ich mich bereits auf die Prüfung vor? Habe ich noch Zeit für die Kompetenzentwicklung oder muss ich mich bereits auf die anstehende Kompetenzfeststellung hin optimieren? Die Folge dieses Konflikts ist, dass auch Lernende eine Als-Ob-Strategie entwickeln, die jedoch anders als die ressourcenaufwendige Strategie der Lehrenden eine klar ressourcenschonende Funktion hat. Lernende wechseln nicht mehr zwischen Lern- und Prüfungsaufgaben hin und her, sondern behandeln letztlich alle Aufgaben, auch die Lernaufgaben so, als ob es Prüfungsaufgaben wären.

Abb. 5: Die (nachteilige) Als-ob-Strategie Lernender, alle Aufgaben als Prüfungsaufgaben zu behandeln

Der Nachteil dieser Strategie liegt auf der Hand: Lernen im Sinne der nachhaltigen Kompetenzentwicklung durch Bildungserfahrungen unter der Gewähr einer positiven Fehlerkultur, nach der Fehler als ein wesentlicher Bestandteil des Lernprozesses gelten, gerät in den Hintergrund. Lernen löst sich in Prüfungsvorbereitungen auf. Kurzfristige Kompetenzsimulationen ersetzen nachhaltige Kompetenzentwicklungen. Für das Gesamtziel ist die Wirkung der gegenwärtigen Prüfungskultur kontraproduktiv: Je mehr Prüfungsdruck besteht, desto mehr wird kurzfristig und desto weniger wird nachhaltig gelernt. Eine ausgeprägte Kompetenzsimulationskompetenz ist das unbeabsichtigte Resultat dieser Strategie, ein breiter Trampelpfad durch das Konfliktfeld von Lern- und Prüfungskultur.

Die Verantwortung für den Konflikt zwischen positiver und negativer Fehlerkultur, zwischen Lern- und Prüfungskultur liegt bei den Lehrenden und anderen Erwachsenen, nicht bei den Kindern und Jugendlichen. Ihr Handeln ist nur Symptom des Konflikts, der sich unter dem steigenden Bildungsdruck (mit steigendem Prüfungsdruck vor dem Hintergrund der Bildungsexpansion) zusätzlich noch verstärkt. Es mutet daher besonders für die Lernenden wie eine zynische Reaktion an, wenn angesichts der Problematik programmatische Fensterreden gehalten werden, die letztlich dazu dienen, den handfesten Konflikt zu einer Haltungsfrage zu stilisieren. Sie alle folgen dem adultistischen Schema “non scholae, sed vitae discimus”, wo angesichts des Zweifels, wie sinnvoll das schulische Lernen ist, schlicht unbegründet behauptet wird, dass es fürs Leben sinnvoll sei. Drei Themenfelder sollen hier kurz aufgeführt werden, in denen solch gut gemeinte, den Konflikt jedoch nicht lösende Fensterreden verbreitet sind.

Fensterreden, die den Konflikt nicht lösen

Vergleichsweise harmlos ist das erste Themenfeld mit der Aufforderung, Lern- und Prüfungsaufgaben genau zu unterscheiden und diese nach den jeweiligen Bedingungen der Lern- und Prüfungskultur zu bearbeiten. Hier wird von den Lernenden ein Szenenwechsel gefordert, welcher analog zu dem der Lehrenden ist. Das klingt soweit plausibel, verkennt jedoch, dass Lern- und Prüfungshandeln nicht auf Kompetenzen in unterschiedlichen Schubladen beruhen, sondern diese im Lernenden nahezu ununterscheidbar übereinander liegen. Viele Aufgaben sind sowohl Lern- als auch Prüfungsaufgaben. Aus Lernaufgaben werden später Prüfungsaufgaben. Lernaufgaben werden mit dem Ziel gestellt, später Prüfungsaufgaben lösen zu können etc. Eine begriffliche Unterscheidbarkeit bedeutet nicht, dass sich eine ähnliche Trennung auch in den Lern- und Prüfungshandlungen umsetzen lässt. Es verschiebt vielmehr auf unlautere Weise die strukturelle Verantwortung auf die Beteiligten. Wer eine strikte Trennung von Lern- und Prüfungsaufgaben fordert, macht aus dem strukturellen Konflikt eine persönliche Verantwortungsfrage und tut so, als ob die Lernenden und Lehrenden den Konflikt zwischen Lern- und Prüfungskultur selbst erzeugen, indem sie beides nicht ordentlich voneinander trennen. 

Das zweite Themenfeld richtet sich auf die Fehlerkultur. Die Forderung nach positiver Fehlerkultur ist weit verbreitet. Niemand würde ernsthaft den positiven Wert von Fehlern bei Lernprozessen bestreiten. Eine positive Fehlerkultur geht von den Lehrenden aus, die das Lernen entsprechend zu organisieren haben. Genauso geht von ihnen jedoch – oftmals ohne dass sie das wollen – die negative Fehlerkultur aus, wenn sie die Lernenden hinsichtlich ihrer Kompetenzentwicklung prüfen. Wer eine positive Fehlerkultur fordert, muss daher auch die Möglichkeit einräumen, dass diese nicht durch eine negative Fehlerkultur wieder umgehend zerstört wird. Wenn etwas immer wieder abgerissen wird, hören die Beteiligten irgendwann mit dem Aufbau auf. Und wie oben schon angeführt leidet die Authentizität und Glaubwürdigkeit von Lehrenden, wenn sie in einem Kontext die positive Fehlerkultur vertreten und in einem anderen Kontext die negative Fehlerkultur praktizieren (müssen).

Ein drittes Themenfeld solcher Fensterreden sind Noten. Eklatant ist hier der performative Widerspruch zwischen dem Herunterspielen von Noten, dass sie gar nicht so wichtig seien und auch niemals den Menschen als Ganzen betreffen, und der tatsächlichen Praxis, mit der Kinder und Jugendliche “ihre” Noten erhalten und das sowohl für Lern- als auch Prüfungshandlungen. Im Verlauf wie auch am Ende eines Schuljahres wird das schulische Handeln von Schüler:innen in einer Bewertung zusammengefasst und mit Unterschriften seitens der Eltern besiegelt. Die Prüfungskultur hat das letzte Wort und geht im Konflikt als deutlicher Gewinner vom Platz. Wer nicht den Vorwurf des Zynismus erhalten will, muss die Behauptung, Noten seien nicht der Mittelpunkt der Schule, mit der weitreichenden Forderung verknüpfen, dass sie wegen ihrer lernhinderlichen Wirkung (weil sie die Etablierung einer wirklichen Lernkultur verhindern) abzuschaffen sind. Erst in einer Schule ohne Noten wird sich die Prüfungskultur nicht über die Lernkultur legen. Der Versuch, eine positive Fehlerkultur zu etablieren, scheitert wesentlich daran, dass am Ende auf die Schüler:innen Noten warten, die ihre ausgezählten Fehler abbilden.

Ein anderes Mischungsverhältnis von Lern- und Prüfungskultur?

In der Kritik der Fensterreden als eben Fensterreden deutet sich bereits an, dass die Lösung des Konflikts zwischen der Lern- und Prüfungskultur keine einfache sein wird. Sie wird weitreichende Folgen haben. Bevor man sich auf diesen Schritt einlässt, wünscht man sich vielleicht eine weniger folgenreiche Lösung. Gibt es nicht auch einen guten Kompromiss zwischen den Konfliktparteien? Naheliegend wäre, das Mischungsverhältnis von Lern- und Prüfungskultur zugunsten des Lernens verändern zu wollen. Um die lernhinderlichen Auswirkungen der negativen Fehlerkultur des Prüfens einzudämmen und mehr Raum für die positive Fehlerkultur des Lernens zu schaffen, werden die Anteile verschoben. Weniger Prüfen, weniger Noten, dafür mehr Lernen. Im Format der didaktischen Schieberegler formuliert sähe das dann folgendermaßen aus:

So viel Lernkultur (und positive Fehlerkultur) wie möglich, so viel Prüfungskultur (und negative Fehlerkultur) wie nötig.

Mit dem Begriff eines veränderten Mischungsverhältnisses bietet sich eine Analogie an, nach der sich Lern- und Prüfungskultur wie zwei Flüssigkeiten zueinander verhalten. Aufgrund ihrer unterschiedlichen Polung (in der Fehlerkultur) vermischen sich die beiden Flüssigkeiten nicht, sondern bleiben voneinander getrennt. Innerhalb dieser Analogie spricht nichts dagegen, einfach die Anteile der beiden Flüssigkeiten zu verändern.

Abb. 6: Ein verändertes Mischungsverhältnis von Lern- und Prüfungskultur

Ein wichtiger Aspekt ist in diesem Bild jedoch noch nicht berücksichtigt: Wenn die beiden unterschiedlichen Flüssigkeiten der Lern- und Prüfungskultur zusammentreffen, findet zwischen ihnen eine Wechselwirkung statt. Und genau hier wird die Analogie fruchtbar, indem man die Wirkungsweise der Prüfungskultur auf die Lernkultur mit der Wirkung von Tensiden auf Wasser gleichsetzt. Lernen wäre wie Wasser. Eine der wichtigsten Eigenschaften für das Lernen, die gespannte Aufmerksamkeit (Interesse, Neugierde, Bewusstheit etc., vielleicht sogar Faszination), würde sich dann wie die Oberflächenspannung von Wasser verhalten. Und so wie die Oberflächenspannung des Wassers in der Lage ist, Gegenstände zu tragen, trägt die Aufmerksamkeitsspannung der Lernenden die Kompetenzentwicklung.

Wenn man nun in das Wasser, auf dessen Oberfläche problemlos ein Gegenstand (wie z. B. eine Büroklammer oder Münze) schwimmen kann, eine vergleichsweise geringe Menge eines Tensids gibt, wird die Oberflächenspannung des Wassers aufgehoben und der Gegenstand geht unter. Eine ganz ähnliche Wirkung hat auch die Prüfungskultur. Bereits eine geringe Menge an Prüfungen, Fehlerauszählungen, Bewertungen und Noten, welche in das Lernen gemischt werden, löst die Aufmerksamkeitsspannung der Lernenden auf oder verschiebt sie. Wie bei einem Kippschalter wird die oben beschriebene Als-ob-Strategie der Lernenden aktiviert und sie behandeln Lernaufgaben wie Prüfungsaufgaben, wollen alles richtig machen, Fehler möglichst vermeiden und dafür gute Bewertungen erhalten, so dass sich ihr Handeln in der prüfungskulturellen Währung auszahlt.

Abb. 7: Prüfungskultur hebt die für das Lernen erforderliche Aufmerksamkeitsspannung auf

Der Konflikt zwischen Lern- und Prüfungskultur kann nicht durch ein verbessertes Mischungsverhältnis gelöst werden. Zu wirkmächtig ist die Prüfungskultur gegenüber der Lernkultur. Die veränderte Mischung müsste derart in Richtung Lernen verändert werden, dass sich dieser Weg keineswegs wie ein Kompromiss anfühlen würde, zumal noch vollkommen unklar ist, wie dieses neue Mischungsverhältnis dann konkret aussehen würde. Die Lösung des Konflikts liegt daher in einer anderen Richtung.

Es wurde oben beschrieben, dass aufgrund des vorherrschenden Verhältnisses von Lern- und Prüfungskultur sowohl eine lehrseitige als auch lernseitige Vermischung von Lern- und Prüfungskultur gibt. Lehrende behandeln ressourcenaufwendend Prüfungsaufgaben so, als ob es Lernaufgaben wären. Lernende behandeln ressourcenschonend Lernaufgaben so, als ob es Prüfungsaufgaben wären. Beides löst den Konflikt nicht. Lehrende befinden sich trotzdem in der Rolle des Pflichtverteidigers einer negativen Fehlerkultur und Lernende sind mehr sich auf Prüfungen Vorbereitende als befreit Lernende innerhalb einer positiven Fehlerkultur. Dennoch lässt sich aus den beiden Als-ob-Strategien etwas Wichtiges übernehmen, denn die Lösung für den Konflikt von Lern- und Prüfungskultur liegt in einem direkten Tausch der beiden Strategien: Lernende übernehmen die Strategie der Lehrenden und Lehrende die Strategie der Lernenden.

Umkehrung von Lern- und Prüfungskultur – durch Lernende

Anstatt die Lernaufgaben wie Prüfungsaufgaben zu behandeln, müssten Lernende auch diejenigen Aufgaben, welche der Ermittlung ihrer Kompetenz dienen, wie Lernaufgaben behandeln. Statt alle Aufgaben wie Prüfungsaufgaben zu behandeln, gäbe es dann für sie nur noch einen Aufgabentyp: die Lernaufgaben mit der ganzen Breite an Möglichkeiten, die eingangs angedeutet worden sind, welche in positiver Fehlerkultur bearbeitet werden, um jeweilige Kompetenzen zu entwickeln.

Damit dieser Strategiewechsel nicht in die Kategorie der wohlfeilen Fensterreden fällt, braucht es strukturelle Veränderungen, die ein verändertes Handeln ermöglichen. Nur durch solch veränderte Bedingungen wird es Lernenden ermöglicht, nicht in ihre bisherige Falle der Als-Ob-Strategie zu tappen. Wichtigstes Merkmal der veränderten Bedingungen ist, dass Lernende die Aufgaben immer unter der Gewähr positiver Fehlerkultur bearbeiten können. Fehler müssen als ein Noch- nicht-Wissen und als ein Noch-nicht-Können verstanden werden.

Daraus folgt die Möglichkeit, eine noch fehlende Kompetenz zu einem späteren Zeitpunkt zeigen zu können, wenn sich entsprechendes Wissen und Können weiterentwickelt haben. Traditionell schließen Prüfungsaufgaben die Lernprozesse ab und erzeugen damit den Konflikt gegenüber der Lernkultur. Will man ihn vermeiden, darf es diese Art der abschließenden Aufgaben nicht geben. Die Einsicht der Lernkultur, dass alle Lernenden sich individuell entwickeln, wird dann nicht mehr durch die Prüfungskultur konterkariert, dass alle für die Prüfungen letztlich doch zu einem einheitlichen Zeitpunkt die gleichen Kompetenzen nachweisen müssen. Nicht zuletzt müssen auch vergleichende Bewertungen unterlassen werden. Sobald Lernende sich über Noten miteinander vergleichen, tritt die Selbstanerkennung für die eigene Kompetenzentwicklung hinter der Selbstbewertung anhand des sozialen Abgleichs mit anderen zurück.

Kompetenzen werden mittels Lernaufgaben entwickelt. Zugleich zeigt sich aber in der Bearbeitung der Lernaufgaben, mit welchen Kompetenzen diese Bearbeitung erfolgt ist. Dadurch wird es ermöglicht, eine zentrale Funktion von Prüfungsaufgaben zu erfüllen, ohne dafür eigens einen Prüfungskontext schaffen zu müssen. Die Bearbeitung von Lernaufgaben hat immer zugleich einen diagnostischen Wert. Im Unterschied zu Prüfungsaufgaben sind aber Lernaufgaben als Diagnoseaufgaben wiederholbar, können sich Kompetenzen an ganz unterschiedlichen Lernaufgaben ablesen lassen, so dass die Lernenden nicht mehr auf den einen Kompetenzstand festgelegt sind, der aus einer Prüfungssituation nach entsprechender Vorbereitung abgelesen wurde. Weiterentwicklung ist fortlaufend möglich und die Gefahr, nur simulierte Kompetenzen festzustellen, wird erheblich reduziert.

Abb. 8: Die lernseitige Lösungsstrategie, alle Aufgaben als Lernaufgaben zu behandeln

Umkehrung von Lern- und Prüfungskultur – durch Lehrende

Lehrende werden dann erst zu Anwälten des Lernens, wenn sie durchgehend die Anwälte der Lernenden sind, wenn sie ihnen gegenüber authentisch und glaubhaft vermitteln können, dass ein Fehler ein Hilfsmittel auf dem Weg der Kompetenzentwicklung ist und die Hilfsbereitschaft nicht etwa wie im Fall von Prüfungssituationen plötzlich ein jähes Ende hat. Statt Prüfungsaufgaben wie Lernaufgaben zu behandeln und sich damit den Konflikt schön zu reden, wird die weiterhin wichtige Funktion der Kompetenzfeststellung durch Lehrende im Kontext der tatsächlichen Lernprozesse vorgenommen.
Im Bewusstsein der lernhinderlichen Wirkung von Prüfungssituationen, dass Bewertungen und Noten wie Tenside beim Wasser die Oberflächen- bzw. die Aufmerksamkeitsspannung der Lernenden aufheben, erfolgt die Kompetenzfestellung möglichst im Hintergrund. Statt einer formellen Prüfung können die Kompetenzen auch in informellen Kontexten abgelesen werden (“Alles ist wichtig, alles kann berücksichtigt werden”). Gegenstand der Feststellung ist dabei immer, ob eine Kompetenz vorhanden ist. Kompetenzen können auch mehrfach festgestellt werden und so die Eigenschaft in den Blick genommen werden, der von der Prüfungskultur bislang als blinder Fleck vernachlässigt wurde: die Nachhaltigkeit einer entwickelten Kompetenz.

Abb. 9: Die lehrseitige Lösungsstrategie, alle Aufgaben als Diagnoseaufgaben zu nutzen

Kompetenzfeststellung ist nicht an Prüfungen gebunden. Vielmehr erzeugt der Versuch, in spezifischen Prüfungskontexten die Kompetenzentwicklung von Lernenden zu erfassen, nicht nur Fehlmessungen simulierter Kompetenzen, sondern auch eine strukturelle Veränderung der gesamten Lernkultur mit erheblichen Folgen und Nachteilen. Je mehr auf Prüfungen gesetzt wird, desto mehr wird für Prüfungen gelernt, desto mehr wird aber auch für die kurzfristige Kompetenzsimulation getan und desto weniger für eine nachhaltige Kompetenzentwicklung. Die Lösung dieses Bildungsparadoxons ist das weitgehende Zurückfahren der Prüfungskultur zugunsten der Lernkultur, verbunden mit der Verschiebung der Prüfungsfunktion zu einer die Lernprozesse transparent, aber im Hintergrund begleitenden Diagnostik, um auf diese Weise sicherzustellen, dass Schule ein Ort wirklicher Lernerfolge ist.